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Ein Kind schreibt das Wort Familie mit Kreide

Der Helfer der Helfer wechselt

  • Walter Wiegand an seinem Schreibtisch in Rendsburg
    Setzt seine wichtige Arbeit an anderer Stelle fort: Walter Wiegand.

Rendsburg - Zum Jahresende verlässt Walter Wiegand den Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde. Er war seit 2015 im gesamten Kirchenkreis und teilweise darüber hinaus Ansprechpartner für Pastorinnen und Pastoren, Ehrenamtliche, Flüchtlingsinitiativen und Geflüchtete. Zu Beginn war die Stelle beim Diakonischen Werk des Kirchenkreises angesiedelt, später im Zentrum für Kirchliche Dienste. Der 73-jährige Jurist und Mediator wird ab Januar Flüchtlingsbeauftragter im Nachbarkirchenkreis Altholstein.

Herr Wiegand, warum gehen Sie nicht in den Ruhestand?

Ich habe meinem 17-jährigen Sohn versprochen, nicht in Rente zu gehen, solange er die Schule besucht (lacht). Aber im Ernst: Ich habe noch ganz viel zu geben an Kompetenzen und Lebenserfahrung, und es gibt noch so viele Menschen, denen ich eine Hilfe sein möchte. Wenn ein Mensch dem anderen hilft, haben immer beide Seiten etwas davon. Was habe ich als Helfer davon? Das gute Gefühl, die Welt ein ganz kleines Stückchen besser gemacht zu haben – wohlwissend, dass ich sie nicht ändern kann, diese Welt. Außerdem reizt es mich nach wie vor, schwierige Dinge anzugehen und komplexe Probleme zu lösen – all das kann ich in meiner Arbeit als Flüchtlingsbeauftragter.

Wie hat sich Ihre Arbeit im Laufe der neun Jahre verändert?

In den ersten Jahren ging es vor allem darum, die Menschen, die zu uns kamen, unterzubringen und zu versorgen. Der Fokus lag auf „satt, warm und trocken“. Dafür haben zahlreiche Ehrenamtliche damals Zeit und Energie aufgebracht, die aber ihrerseits in vielerlei Hinsicht Beratung und Unterstützung brauchten. Wie koordiniere ich die Hilfe? Welche Wege sind gut, welche vielleicht nicht so klug? Wie grenzt man sich ab? All das war für Viele damals unklar. Heute ist die rechtliche Grundlage der Flüchtlingsarbeit sehr viel diffiziler und damit noch weniger klar. Meine alltägliche Arbeit hat sich vor allem dahin verändert, dass ich viel stärker direkt mit Geflüchteten arbeite und diese unterstütze, aber immer noch begleitet von Ehrenamt und Hauptamt. Rückblickend würde ich sagen, dass ich in den neun Jahren im Kirchenkreis um die 2.500 Menschen unterstützt und begleitet habe, mit Telefonaten, schriftlicher Korrespondenz, Beratungsgesprächen, teilweise Fahrten und vielem mehr.

Wie sehen Sie die gesellschaftliche Entwicklung in Bezug auf den Umgang mit Geflüchteten?

2015 war das Jahr, in dem die Zahl der Geflüchteten, die ihren Weg zu uns fanden, sehr stark anstieg und eine Welle der Solidarität durchs Land ging. Ungefähr zwei Drittel der hier lebenden Menschen unterstützte die Flüchtlingsarbeit damals. Heute hingegen steht höchstens ein Drittel der Menschen in unserem Land der Aufnahme von Geflüchteten positiv gegenüber. Begriffe wie „Remigration“ und Aussagen wie „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ wären damals nicht goutiert worden. Diese Vielschichtigkeit, auch in den Haltungen gegenüber meiner Arbeit, hat die Komplexität massiv gesteigert, und der Blick auf die mannigfaltigen Einzelschicksale fällt schwerer. Wenn ich aber in vielen meiner Gespräche eben darauf abstelle, weil ich in meiner täglichen Arbeit immer mit Einzelschicksalen zu tun habe, steigt bei dem Gegenüber das Verständnis und die Zugewandtheit spürbar. Trotzdem bleibt es dabei: Wir haben immer zu wenig. Zu wenig Deutschkurse, zu wenig Wohnraum, zu wenig adäquate Arbeitsplätze.

Woher kommen die Menschen, die bei Ihnen Rat und Unterstützung suchen?

Aus vielen asiatischen und afrikanischen Ländern, aber auch aus der Türkei und der russischen Republik. Nicht zu vergessen: Der Ukraine-Konflikt hat die Flüchtlingsarbeit und Beratung deutlich verändert. In den ersten 18 Kriegsmonaten flüchteten ca. 1 Million Ukrainerinnen und Ukrainer allein nach Deutschland, ein Vielfaches mehr Menschen als aus der übrigen Welt. Auch jetzt ist es noch so, dass von 100 Menschen, die hier ankommen, etwa 50 aus der Ukraine stammen und die übrigen aus anderen Ländern. Sprich: es kommen durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine deutlich mehr Menschen hierher. Menschen, die übrigens keinen Asylantrag stellen müssen, sondern viele Hilfen leichter und unbürokratischer erhalten. Das ist gut für die, die vor dem Krieg fliehen. Für alle anderen wird es dadurch schwerer, und die Arbeit für uns wird dadurch nicht leichter, denn die Ressourcen sind ja endlich: Kita-Plätze, Schulen, Wohnraum und vieles andere brauchen alle Menschen, die da kommen.

Welche Dinge sind Ihnen im Guten wie im Schlechten nachhaltig in Erinnerung geblieben?

Die vielen Schicksale, denen ich in meiner Arbeit begegnet bin, nehmen mich sehr mit.

Frauen, die von Genitalverstümmelungen berichten.

Ehepartner, die sich viele Jahre nicht sehen, sechs, sieben Jahre oder noch länger nicht berühren können. Mütter und Väter, die ihre Kinder höchstens über den Bildschirm oder gar nicht aufwachsen sehen. Kinder, die jahrelang nur einen Wunsch haben, nämlich den, ihre Mama oder ihren Papa wieder bei sich zu haben. Kinder, die so unschuldig an all den Verwerfungen sind und trotzdem all das mit ertragen müssen.

Ich erinnere mich an zwei junge Männer, unabhängig voneinander. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um zu helfen. Aber dennoch fanden beide keinen Weg aus ihrer Hilflosigkeit, ihrer Ohnmacht und ihrer Verzweiflung, waren Angst um Familie und Freunde zu groß und für sie nicht aushaltbar. Beide nahmen sich das Leben.

Aber es gibt auch viel Positives: Da ist ein junger Mann, den ich lange begleitet habe, der seine Erzieherausbildung mit der Note 1,9 abgeschlossen hat, eingebürgert wurde, nach langen acht Jahren seine Frau nachholen konnte, Vater wurde. Oder eine junge Frau, die mehrfach in der Psychiatrie behandelt werden musste, weil sie mit den Unsicherheiten und Erfahrungen kaum umgehen konnte. Heute ist sie Mutter und steht mit ihrer kleinen Familie mitten im Leben. Daraus ziehe ich meine Kraft.

 

Beratung für Geflüchtete:
Für Geflüchtete gibt es weiterhin die Beratungsstelle der Diakonie Altholstein in Rendsburg: www.diakonie-altholstein.de/de/migrationsberatung-migrationssozialberatung

Suizidgedanken:
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter 112. Außerdem bieten natürlich alle Pastor*innen in den Ortsgemeinden wohnortnah Seelsorgegespräche und Begleitung an. Ein großes, dezentrales Angebot unserer Kirche, das nicht allen Menschen bewusst ist – aber der Weg ist gar nicht so weit. Egal was einen beschäftigt.

Die Telefonseelsorge ist telefonisch erreichbar 24 Stunden kostenfrei unter 0800/111 0 111 bzw. 0800/111 0 222

Für die Gehörlosen-Seelsorge und die Arbeit für Gehörlose und Schwerhörige ist Diakonin Susanne Jordan im Bezirk Heide, Kiel, Neumünster und Rendsburg zuständig. Sie ist erreichbar unter 
E-Mail: susanne.​jordan@​seelsorge.​nordkirche.​de
Geschäftlich +49 481 786 7040
Mobil +49 175 702 97 09

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